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Ralph Eid . Landschaftsarchitekt . Gerbersdorf 25 . 84381 Johanniskirchen . Tel 08564/91004

Freiheit, Wissen und Glaube

Peter Sloterdijk, Professor für Ästhetik und Philosophie an der staatl. Hochschule in Karlsruhe, betrachtet die Französische Revolution von 1789 als einen entscheidenden Bruch in der Geschichte der Menschheit, die zwar die Befreiung von absolutistischer Monarchie gebracht hat, aber ein neues, besseres, in sich geschlossenes Wertesystem bis heute schuldig geblieben ist. Die Postmoderne gar erweist sich als "Zeitalter der Nebenwirkungen und Reparaturen". Leitbegriffe des 21. Jahrhunderts sind "Pfusch und Reparatur" ('Die schrecklichen Kinder der Neuzeit', Suhrkamp, Berlin 2014), dem politischen Establishment fehlt ein klares Gestaltungskonzept, mit dem der technische Fortschritt in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden kann.

Befreiung von alten Zwängen – das klingt doch gut. Das hat unsere Gesellschaft gar dazu verleitet, die neugewonnene Freiheit als Wert schlechthin darzustellen und die damit verbundene 'offene' Gesellschaft der westlichen Staaten als Vorbild hinzustellen, im Gegensatz zu autokratischen Systemen wie Russland oder der Türkei, bzw. theokratischen wie z.B. dem Iran. Auch die Demokratie, untrennbar mit der Freiheit verknotet, gilt als aller Kritik erhaben, obwohl man immer wieder feststellen muss, dass Meinungsbildung in jeder Gesellschaftsform viel mit Marketing und Einfluss auf die Medien, bzw. die veröffentlichte Meinung zu tun hat – letzten Endes also mit Macht in Verbindung mit Geld oder umgekehrt. Die gewonnene Freiheit des Einzelnen hat bis jetzt nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt (siehe Sloterdijk). Was übrigens in der Geschichte immer wieder zu beobachten ist: Die Abschaffung einer als schlecht und ungerecht empfundenen Situation führt nicht automatisch zu einer Verbesserung. So hat die Auflösung des feudalistischen mittelalterlichen Gesellschaftssystems für die Leibeigenen eher die Situation verschlimmert: Waren sie früher immerhin versorgt, so waren sie danach plötzlich auf sich gestellt, ohne eine Perspektive für die Zukunft: Keine Bildung, kein Eigentum, keine Investitionsmittel, nichts um sich selbst zu versorgen. Den Sklaven in Amerika ging es nach der Abschaffung der Sklaverei auch nicht besser. Sie waren irgendwann zwar frei, aber Ausgrenzung und Ausbeutung gingen weiter. Die Auflösung der Kolonialherrschaft in Afrika und anderswo hat ebenso nicht zu Frieden und Wohlstand geführt, sondern war nur der Anlass zu Knebelverträgen mit noch hemmungsloserer Ausbeutung. Wenn die alte Ordnung, und sei sie noch so ungerecht, zerbricht, herrscht oftmals erst einmal Anarchie, in der das Recht des Stärkeren gilt. Wenn sich dann auch noch global agierende Wirtschaftsunternehmen mit lokalen Machthabern verbünden, um ihre Geschäfte, meist die Ausbeutung von Bodenschätzen, mit maximalem Gewinn durchführen zu können, bleibt die Bevölkerung auf der Strecke.

Freiheit contra Werte

Bis jetzt, so scheint es, hat die Freiheit nur unseren Egoismus entfesselt. Eine positive Perspektive, wie die Freiheit zum Wohle aller wirken könnte, ist nicht in Sicht. Wie hier schon mehrfach angesprochen wurde, haben gerade wir im Westen die Freiheit v.a. dazu verwendet, andere Länder, bzw. Bevölkerungen, zu unterdrücken oder auszubeuten. Freiheit an sich wäre ja eine gute Sache, wenn es feste Werte gäbe, die Auswüchse verhindern. Es erscheint also nur folgerichtig, wenn viele Menschen sich Autoritäten wünschen, die die Einhaltung allgemein anerkannter Werte überwachen. Das können religiöse Werte sein oder auch profane. Die profanen Werte sind heutzutage eher auf der rechten Seite des politischen Spektrums angesiedelt: Schluss mit Multi-Kulti, mit offener Gesellschaft, mit Kooperation und Rücksichtnahme auf andere, ob Menschen oder Staaten. Zu dem 'Amerika First' gibt es in jedem Industriestaat sein nationales Pendant. Es scheint, als sehne sich eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen danach, dass einer kommt, der sagt wo es lang geht, der das Ruder wieder fest in die Hand nimmt. Was nutzt einem die Freiheit, wenn sie mit wachsender Unsicherheit einhergeht? Freiheit oder Sicherheit – für viele vielleicht die entscheidende Frage. Dass mit dem Verlust der Freiheit immer auch Unterdrückung, Ausbeutung, Persönlichkeitsverlust und vieles andere untrennbar verbunden war, will man sich lieber nicht eingestehen. Diesmal könnte es ja auch anders kommen. Trotz geschichtlicher Parallelen ist die Zukunft immer offen. Auf der religiösen Seite ist es heute vorwiegend der Islam, der eine Antwort auf die Probleme unserer Zeit hat. Er würde am liebsten Staat und Religion verschmelzen. Es sind zwar v.a. die Zurückgelassenen, die den Gottesstaat propagieren, also diejenigen, die nicht die Segnungen der Industriestaaten genießen dürfen, aber das kann sich ändern, umso mehr als die Industriestaaten selbst dafür sorgen, dass immer mehr ihrer Bürger zurückgelassen werden. Immerhin gehört der Islam ja bereits zu Deutschland.

Ich habe mich vor kurzem, vor der Landtagswahl in Bayern, wo einem die Parolen aller Parteien nur so um die Ohren fliegen, mit einer guten Freundin – ich nenne sie einfach mal 'Emma' – über diesen Satz gestritten. Sie war der Meinung, der Islam gehöre sehr wohl zu Deutschland, und meinte damit die Menschen muslimischen Glaubens, die seit kurzem oder längerem hier wohnen. Ich widersprach ihr, meinte aber den Islam als Gesellschaftsform. Nach einigem hin und her stellten wir fest, dass wir gar nicht so weit auseinander liegen. Emma engagiert sich für Flüchtlinge, v.a. für die Kinder. Sie kümmert sich bei schulischen Angelegenheiten, hilft bei den Hausaufgaben. Sie ist daran interessiert, dass die Kinder Deutsch lernen, dass sie sich integrieren, aber auch dass sie von der deutschen Gesellschaft angenommen und akzeptiert werden. Die Religiosität ihrer Schützlinge betrachtet sie als reines Persönlichkeitsrecht: jeder darf an das glauben, woran er will. Damit bin ich voll und ganz einverstanden. Solange jemand unsere gesellschaftlichen Normen achtet, verdient er unser Wohlwollen. Und wir sollten dafür sorgen, dass er ohne Angst hier leben kann.

Doch der Islam hat noch eine andere Dimension. Und die gehört meiner Meinung nach nicht zu Deutschland. Es wäre blauäugig, den Islam als eine Religion wie unsere kirchlichen Konfessionen zu sehen. Viele gehen stillschweigend davon aus, die Trennung zwischen Kirche und Staat, so wie sich das bei uns seit Jahrhunderten eingebürgert hat, gelte auch im Islam. Doch so einfach ist das nicht. Zwischen unserem – christlichen – Gesellschaftssystem und dem islamischen liegen Welten, weil sie von zwei völlig unterschiedlichen Seiten an den Menschen herantreten. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, ob eins von beiden besser oder schlechter ist. Wir sollten uns die grundsätzlichen Unterschiede bewusst machen, damit wir mehr über unsere Identität erfahren. Wir müssen uns mit dem Islam auseinandersetzen, um zur Klarheit über unser eigenes Leben zu gelangen.

Ich habe an dieser Stelle schon öfter meine Meinung zu unseren kulturellen Werten geäußert, sofern man bei uns überhaupt noch von Kultur reden kann. Allgemein betrachtet ist viel Sand im Getriebe. Auch Sloterdijk ist der Meinung, politisches und wirtschaftliches Handeln 'gehorcht nur noch dem Gesetz der permanenten Improvisation'. Wer noch an ferne Ziele denkt, passt nicht mehr ins System.

Das ist schlimm – weil ohne gemeinsame Ziele der Zusammenhalt in jeder Gesellschaft verloren geht. Ein guter Anfang, gemeinsame Ziele zu formulieren, wäre die Auseinandersetzung einerseits mit unserer Herkunft, weil jeder zielgerichtete Weg Voraussetzungen hat, die ein Ziel erst erkennbar machen, andererseits mit alternativen Wegen, weil Ziele immer wieder hinterfragt werden können und ein gesunder Streit Klarheit bringen kann und den Willen stärkt. Und da bietet die Abgrenzung zum Islam geradezu ideale Voraussetzungen, weil beide Kulturen, Islam und Christentum, gemeinsame Wurzeln haben, sich aber in verschiedene Richtungen entwickelt haben.

Diese Auseinandersetzung ist keine Wertedebatte. Es geht nicht darum, eine mögliche Überlegenheit der einen oder anderen Seite herauszuarbeiten. Es geht nur um eine Charakterisierung der grundsätzlichen Anschauungen und den sich daraus ergebenden Folgen. Dabei muss ich eingestehen, dass ich mich mit dem Islam eigentlich nur in den Grundzügen ansatzweise auskenne, und daher manches wohl nicht richtig darstelle. Aber auch die Christen werden mir vorhalten, dass meine Vorstellung von Christentum wenig mit der offiziellen Lehrmeinung der Kirchen zu tun hat. Alles in allem also vielleicht doch keine so schlechte Ausgangssituation, als Außenseiter auf beiden Seiten.

Christentum contra Islam

Die Basis für beide Religionen ist das alttestamentliche Judentum. Beide glauben an den gleichen Gott, und doch sind die Systeme so verschieden. An Christus scheiden sich die Geister. Für den Islam gilt Jesus als einer von vielen in der langen Reihe der alttestamentlichen Propheten, die mit Mohammed ihren Abschluss findet. Da Mohammed im Koran die letztgültige Wahrheit verkündigt, sind weitere Propheten ja auch überflüssig. Für die Christen gilt Jesus als der Messias, ja gar als Gottes Sohn bzw. in der Dreieinigkeit als Gott selbst. Ein Prophet nach Christus, der diesen wieder relativiert, wäre ein Widerspruch in sich. Größer könnten die Unterschiede kaum sein. Und da es nicht um irgendeinen x-beliebigen Glauben geht, den sich jeder selbst aussuchen kann, sondern um Wahrheit, haben diese Unterschiede wesentlichen Belang.

Freiheit contra Gesetz

Der zweite große Gegensatz ist das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gesetz. Christus hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er das Gesetzt zwar nicht aufheben will, dass aber Verständnis, Liebe und Mitgefühl die buchstabengetreue Auslegung relativieren können. So hatte er keine Probleme, am Sabbat Kranke zu heilen, was die Pharisäer zur Weißglut trieb. Das Gesetz verliert seinen absoluten Wert, der Einzelfall entscheidet über die Auslegung. Gutes ist nicht mehr absolut gut und schlechtes nicht mehr absolut schlecht. Es gibt Situationen, in denen das Gesetz nicht zur Anwendung kommen kann. Ein neues Zeitalter beginnt.

Wenn feste Regeln relativ werden, erfordert das von jedem einzelnen aktives Nachdenken. Die Persönlichkeit gewinnt an Bedeutung. Das hat auch Auswirkungen auf die Familienbande. In der neuen Gemeinschaft der Christenheit ist jeder dem anderen Bruder oder Schwester, die genetische Herkunft ist höchstens noch zweitrangig. Jeder einzelne hat es in der Hand, was aus ihm wird. Die Verantwortung für sein Leben trägt jeder selbst. Johann Gottfried Herder hat das sehr prägnant ausgedrückt: 'Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung.'

Das Gesetz hat er mit auf seinen Weg bekommen. Als gedrucktes Buch braucht er es aber nicht, denn er hat es in sich. Diese kaum beachtete, aber zentrale Eigenschaft des Christentums lautet bei Lukas (Lk 17,21): "Das Reich Gottes ist inwendig in Euch." Paulus beschreibt es ähnlich; er zitiert im Brief an die Hebräer (8,10) eine Prophezeiung von Jeremia (Jeremia 31,33): 'Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben, in ihren Sinn will ich es schreiben.' Heute heißt es nicht mehr Gesetz, sondern Gewissen. Oder 'Kategorischer Imperativ'. Zweitausend Jahre sind also nicht spurlos an der Menschheit vorbeigegangen, auch wenn das Ziel noch lange nicht erreicht ist. Auf jeden Fall ist auch das ein Mosaikstein für den Weg in die Freiheit. Denn hier ist das Gesetz individualisiert. Jede Entscheidung erfordert eine neue Abwägung: was ich mir in der einen Situation leisten kann, kann ich in einer anderen nicht. Wenn es um Mord und Totschlag geht, wird das Gesetz auch weiterhin absolute Gültigkeit haben (obwohl sogar die Kirchen einen 'gerechten' Krieg kennen). Aber es gibt immer mehr Grauzonen, in denen ein absolutes Gesetz versagt. Die ersten Autos konnten noch soviele Schadstoffe ausstossen – für die lokale, und noch weniger für die globale Menschheit, hatte das keine Konsequenzen. Wenn aber jeder zweite Bürger ein Auto fährt, macht es einen gewaltigen Unterschied, ob es ein paar Gramm mehr oder weniger emittiert. Oder in der Landwirtschaft: Ein paar Rindviecher mit Kuhglocken auf den Almen kann man ohne weiteres als idyllisch betrachten. Die Millionen in den Ställen, die mit ausgerülpstem Methan u.U. mehr zum Klimakollaps beitragen als das CO2 aus den Autos, sind völlig anders zu beurteilen. Ganz zu schweigen von den unwürdigen Haltungsbedingungen. Neben den Gesetzen, die das alles regeln oder einschränken, darf man nicht vergessen, dass fast jeder für sich selbst eine Teilverantwortung trägt, indem er sein Konsumverhalten in der einen oder anderen Weise verändert. Noch viel weiter entfernt von diesem Idealzustand sind meine 'Lieblingsfeinde', unsere sog. Volksvertreter, die allerdings mehr ihre eigenen Interessen und die des Kapitals als die des Volkes vertreten. Vor ein paar Tagen (am 13.11.2018) habe ich im Deutschlandfunk ein Interview mit dem Politikberater (so wurde er dort vorgestellt) Michael Spreng gehört. Das erschreckendste an den Aussagen Sprengs war die lapidare Normalität, mit der exzessive Auswüchse im politische Geschehen hingenommen werden. Es ging darin um den Stimmenverlust der CSU bei der Landtagswahl und die damit von allen Seiten aufgeworfene Frage, inwieweit der Innenminister, Horst Seehofer, dafür die Verantwortung trägt und entsprechende Konsequenzen ziehen muss. Den entsprechenden Ausschnitt möchte ich hier zitieren:

Spreng: So ist halt brutale Machtpolitik, die natürlich auch in der CSU herrscht. Sie können nicht alle, die an dieser Wahlniederlage schuld sind, zu Schuldigen erklären. Dann bliebe ja keiner mehr übrig. Dann müssten ja auch Söder, Dobrindt, Blume und so weiter gehen. Also wird einer ausgeguckt, und das ist Horst Seehofer. Natürlich ist er nicht der allein Schuldige. Die ganze Partei hat ihn in diesen verhängnisvollen Konfrontationskurs mit Frau Merkel in diesem Jahr getrieben.
Münchenberg (Dlf): Gerade Markus Söder, der ja der erste war, der die AfD rechts überholen wollte im Landtagswahlkampf.
Spreng: Ja und der von Asyltourismus sprach. Aber Dobrindt auch. Beide haben Horst Seehofer auf den Baum getrieben, und als er oben saß, entdeckten sie plötzlich die bayerische Landespolitik und wollten nichts mehr damit zu tun haben. Das ist natürlich unredlich, aber so ist Politik. Es muss Überlebende geben, es soll ja weiterregiert werden, sonst gibt es überhaupt keine Führungspersönlichkeiten mehr in der CSU. Deswegen muss jetzt Horst Seehofer die Last alleine tragen.

Also: Brutalität und Unredlichkeit sind zwar Eigenschaften, die im mitmenschlichen Bereich nichts zu suchen haben, aber in der Politik sind sie ganz normal? Muss man daraus schließen, dass Politiker eigentlich keine Menschen sind? Sind es Übermenschen? Albert Schweitzer hat in seiner 'Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben' gefordert: 'Kein Mensch darf je einem Zweck geopfert werden.' Ob die christlichen Parteien davon je etwas gehört haben?

Man darf sich nicht damit abfinden, was heute alles als normal hingenommen wird. Ich glaube nicht, dass es altmodisch ist, wenn man von den Menschen, die als unsere Vertreter an der Spitze stehen, erwartet, sie sollen Vorbilder sein. Welches Menschenbild wird Kindern vermittelt, denen in der Schule Humanität nahegebracht wird und die in der Realität genau das Gegenteil sehen. Und wie verträgt sich das mit den christlichen Werten, die doch angeblich (und gerade aus Kreisen der CSU immer wieder herausgestellt) die westlichen Gesellschaften prägen? Doch das führt schon zu weit vom eigentlichen Thema weg. Aber es reicht aus, um zu der grundlegenden Einsicht zu gelangen: Freiheit ohne Menschlichkeit ist wertlos. Doch die Menschlichkeit muss aktiv erkämpft werden. Mag sein, dass der Kampf in der Politik schwieriger ist als beim gemeinen Volk, aussichtslos ist er nicht.

Am deutlichsten kommt die neue persönliche Freiheit, aber auch die damit verbundene Verantwortung, vielleicht in der Merlin- und Parzival-Sage zum Tragen. Merlin wird vom Satan gezeugt, er ist sozusagen genetisch extrem vorbelastet. Sein Weg ist eigentlich vorgezeichnet. Doch er überwindet seine Herkunft und wird als christlicher Adept zum Lehrer des legendären König Arthus.

Auch das Leben von Parzival war anders vorgezeichnet. Seine Mutter tat alles, um ihn vor Versuchungen zu schützen. Was allerdings zur Folge hatte, dass er als naiver Narr seinen Weg in die Welt antrat, was Verstrickung und Schuld geradezu notwendigerweise zur Folge hatte. Und doch findet er den Weg zur Demut und Erlösung und darf letztendlich als Gralsherr das Erbe der Christenheit, eine Schale mit dem Blut Christi, bewahren.

Grenzen der Freiheit

Es dürfte klar sein, dass nach christlicher Lesart Freiheit nicht gleichbedeutend mit zügellosem Verhalten ist, mit Tun und Lassen dürfen, was man will. Sie gleicht eher den Möglichkeiten eines Architekten. Ob Wolkenkratzer oder Villen, Paläste oder Hütten, seiner Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Trotzdem muss er, wenn seine Bauten Bestand haben sollen, die Gesetze der Statik penibel beachten. Die Gesetze der Statik bilden die Rahmenbedingungen, innerhalb derer er sich frei bewegen kann. Wenn er sie verletzt, bricht sein Bauwerk zusammen. Worin besteht dann eigentlich der Sinn der Freiheit? Auf der einen Seite Freiheit, auf der anderen bleibt das Gesetz aber, mit marginalen Einschränkungen, bestehen. Zuwiderhandlungen werden bestraft. Ob man das nun als jüngstes Gericht oder als Karma-Gesetz versteht, ist letztlich gleichgültig. Alle Antworten auf diese Frage sind nicht zu hundert Prozent befriedigend. Es hat wohl damit zu tun, dass der Mensch nicht als göttliche Marionette handeln soll, sondern aus selbst gewonnener Einsicht. Mit menschlicher Logik betrachtet, müssten am Ende der Entwicklung individuelle Menschenseelen stehen, von denen jeder etwas in sich hat, das Gott so nicht hat.

Ich muss in diesem Zusammenhang immer an einen Musiker denken. Jeder, der sein Instrument beherrscht und Noten lesen kann, wird eine Partitur erfolgreich vortragen können. Und jeder Hörer wird die Musik von den unterschiedlichsten Interpreten als die gleiche erkennen. Aber derjenige Musiker, in dem sie etwas zum klingen bringt, der Schmerz und Freude seines Lebens mit der Musik verbindet, wird diese Musik auf eine einzigartige Weise interpretieren, die ihn von allen anderen, sogar vom Komponisten selbst, unterscheidet.

So erhaben Freiheit auch scheint – sie ist nicht ohne Selbstverantwortung zu haben. Freiheit und Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden. Die Grenzen der Freiheit, die ehemals durch ein absolutes Gesetzt definiert wurden, muss sich jeder selbst auferlegen. Wenn er das nicht tut, führt die Entwicklung letzten Endes zur Anarchie und damit ins Chaos.

Der Islam legt viel mehr Wert auf das geschriebene Gesetz. Zwar ist auch in den muslimischen Gesellschaften eine gewisse Entwicklung zu beobachten, z.B. wenn es um Frauenrechte geht. Und manchmal sind gerade die Gesellschaften, die die 'Achse des Bösen' verkörpern, weiter als die westlichen Verbündeten. Im Iran geht es in dieser Hinsicht wesentlich liberaler zu als in Saudi-Arabien. Man muss aufpassen, dass man sich nicht von der westlichen Propaganda einlullen lässt. Sie ist kein Stück besser als irgendeine andere.

Dennoch muss man die grundsätzlichen Unterschiede scharf unterscheiden. Der Islam zielt auf Einhaltung des Gesetzes und nicht auf Freiheit. Er steht in dieser Hinsicht dem Alten Testament näher als dem neuen. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man es als eine Ironie der Geschichte bezeichnen, dass gerade die beiden alttestamentlichen Gesellschaften – Islam und Juden – sich als unversöhnliche Feinde gegenüber stehen.

Immerhin ist die Bereitschaft, das Gesetz zu befolgen, bei den Muslimen deutlicher ausgeprägt als bei uns, auch wenn die Tendenz zum Terrorismus bei einseitiger Auslegung nicht von der Hand zu weisen ist. Wir Christen mögen das Gesetz zwar in unseren Herzen tragen, aber dort scheint es in irgendeiner Ecke zu verstauben, ohne beachtet zu werden. Und wer will ernsthaft behaupten, dass die Ausbeutung ganzer Völker, wie es christliche Praxis war und ist, nicht auch Terrorismus ist, in vielen Fällen zwar eher schleichend und nicht so spektakulär wie ein Selbstmordattentat, aber meistens sogar wesentlich effektiver.

Eigentlich könnten wir sogar vom Islam lernen: Dass Religion Einfluss auf das alltägliche Leben, auf alltägliche Entscheidungen hat, haben die christlich-kirchlichen Institutionen längst vergessen. Christliches Handeln und christlicher Glaube haben nichts miteinander zu tun. Die Auseinandersetzungen über die Werkgerechtigkeit gehören der Vergangenheit an. Heute kann man sich Christ nennen und braucht sich trotzdem nicht um das Wohl seiner nahen oder fernen Mitmenschen zu kümmern. Ich kenne Atheisten, die für ihren Todesfall prophylaktisch eine Messe in Auftrag gegeben haben – gut angelegtes Geld, falls das Leben doch nicht im Nichts enden sollte. Und es passt perfekt ins marktwirtschaftliche Denken: Auch das Seelenheil ist käuflich. Der Ablasshandel wird zwar nicht mehr beworben, aber er geht munter weiter.

Auch wenn wir nicht ernsthaft wollen können, dass ein in langen Kämpfen gefundenes weltliches Recht mit allgemeinen Menschenrechten oder Gleichberechtigung weniger gilt als ein antikes religiöses, wie das durch die Einführung der Scharia immer wieder versucht wird, so können wir doch die Nachteile unseres Systems nicht übersehen. Wenn alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist, gewinnt der, der die besten Schlupflöcher findet, auch wenn er das zu Lasten einzelner anderer oder der gesamten Gesellschaft tut. Und bei neuen Entwicklungen, die noch gar nicht gesetzlich geregelt sein können, sind Auswüchsen Tür und Tor geöffnet. Während im Islam die Tendenz besteht, mit einem alten, antiquierten Gesetz die Entwicklung aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen, hinkt bei uns das Gesetz der Entwicklung immer hinterher.

die Zukunft der Freiheit

Man kann diese Problematik nicht auf eine simple Entscheidung für eine der beiden Pole reduzieren. Das würde ja bedeuten, dass Entwicklung irgendwann ein Ende erreicht. Die Entwicklung zur Freiheit also in der jetzigen Zeit. Diese Anschauung entspringt allerdings eher menschlicher Arroganz als realitätsbezogener Beobachtung. Wer die gesellschaftliche Realität unvoreingenommen betrachtet, wird unweigerlich zu dem Schluss gelangen, dass wir als Menschen trotz allem, was wir bisher erreicht haben, doch noch sehr unvollkommen sind. Wir haben zwar eine Eigenschaft, die Freiheit, zur Entfaltung gebracht. Aber das ist bis jetzt eine einseitige Entwicklung. Wir sind eigentlich bereits über das Ziel hinausgeschossen. Freiheit bedeutet für uns oft grenzenlose Selbstverwirklichung, auch wenn das auf Kosten anderer geschieht. Wir haben zwar einen Abschnitt in der Entwicklung humaner Evolution hinter uns gebracht, doch diese Entwicklung ist noch lange nicht zu Ende.

Gerade lese ich ein Buch über Josef Ackermann, ehemaliger Chef der Deutschen Bank (Stefan Baron: Späte Reue, 2013). Darin wird u.a. beschrieben, wie Josef Ackermann das Vertrauen in die Banken und generell in die Wirtschaft wieder gewinnen will. Hintergrund ist die Krise von 2007/2008, die viele große Banken an den Rand des Ruins getrieben und zudem viele Steuergelder gekostet hat. (Was die meisten Banker aber nicht daran gehindert hat, weiter vom großen, schnellen Geld zu träumen und schon gar nicht auf ihre Boni trotz horrender Verluste zu verzichten.) So kommt es 2010 zum ersten firmenübergreifenden Ethikkodex in Deutschland, den über 20 Unternehmenschefs unterschrieben haben, darunter neben Josef Ackermann auch Martin Winterkorn von VW, Jürgen Hambrecht (BASF) oder Franz Fehrenbach von Bosch. Kurz zuvor hatte die Deutsche Bank ihren eigenen Ethikkodex aktualisiert. Darin heißt es u.a.: "Die Deutsche Bank fordert aufrichtiges und ethisch einwandfreies Verhalten bei allen geschäftlichen Aktivitäten." Doch die dubiosen Geschäfte der Banken und der Wirtschaft gingen munter weiter. Erinnert sei nur an die Libor-Affäre, Mitarbeit bei Geldwäschegeschäften und Steuerhinterziehung, Cum-Cum und Cum-Ex Geschäfte, Betrugssoftware bei der Abgasreinigung von PKWs und vieles andere. Die Kodizes waren durchaus ernst gemeint, ihre Wirkung aber nur marginal. Offenbar sind allgemeine Regeln wenig hilfreich, wenn im Einzelfall andere Kriterien wie Gewinn, Macht, Einfluss, o.a. wichtiger sind.

Hier kommen wir wieder zurück auf die Auseinandersetzung mit dem Islam, insofern das für unser Selbstverständnis wichtig ist. Wenn die Christen das Gesetz vergessen und nur noch Exzesse der Freiheit feiern, hat der Islam gute Chancen, die Oberhand zu gewinnen. Wir als Christen müssen unseren Horizont erweitern. Das klingt alles sehr nach idealistischer Träumerei, wenn man die Realität betrachtet, in der es zwar noch christliche Tradition gibt, aber keine gelebte christliche Religiosität. Seit der Neuzeit geht die geistesgeschichtliche Entwicklung über Reformation und Aufklärung eher in Richtung Atheismus. Die Werte haben sich von der Religion gelöst: Humanismus, Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, soziale Verantwortung. Diese Trennung der Werte von der Religion wird allgemein als positive Entwicklung gesehen, weil die Voraussetzung dazu, die Trennung zwischen Kirche und Staat, sowieso schon akzeptiert ist und nicht in Frage gestellt wird.

Der Denkfehler in der Rechtfertigung dieser Trennung, ob sie nun berechtigt ist oder nicht, wird kaum wahrgenommen. Man geht nämlich stillschweigend davon aus, dass Christentum und christliche Kirche das gleiche ist. Das ist aber nicht richtig. In der Kirche ging es immer auch um Macht, sowohl um weltliche, als auch auf geistigem Gebiet über die Gedanken und Gefühle der Menschen. Deshalb liegt es nahe, Kriege im Namen der christlichen Lehre, die Unterwerfung ganzer Völker oder Inquisitionsprozesse zur Ausschaltung ungenehmer Gedanken mit christlicher Weltanschauung gleichzusetzen. Wenn man dagegen die Kernaussagen der christlichen Überlieferung, wie sie v.a. im Neuen Testament niedergelegt sind, als die eigentliche christliche Weltanschauung ansieht, dann geht es gerade nicht um Macht, sondern v.a. um Demut als Voraussetzung zur richtigen Entwicklung der Persönlichkeit. Was Menschen aus einer Mischung von egoistischem Geltungsdrang und falsch verstandenem Glauben an die Notwendigkeit christlicher Mission getan haben, hat mit der ursprünglichen christlichen Überzeugung nichts zu tun. Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob die Organisation Kirche ein notwendiges Übel in der geschichtlichen Entwickelung war oder ob es dem Abendland oder sogar der gesamten Menschheit besser gegangen wäre, wenn es die Kirche nicht gegeben hätte.

Überwindung des Glaubens

In der Auseinandersetzung um die richtigen Werte muss man diesen Unterschied berücksichtigen. Denn auch wenn die Trennung zwischen Kirche und Staat richtig ist, muss es nicht automatisch auch die Trennung zwischen Religion und Wertebewusstsein sein. Was die Kirche in erster Linie fordert, nämlich den unbedingten Glauben, muss überwunden werden. An seine Stelle muss das Wissen treten. Das Beharren auf den Glauben ist eine Sackgasse, die im Widerspruch zu dem Weg in die Freiheit steht. Der freie Mensch kann sich gar nicht an antiquierten Glaubensbegriffen orientieren, wenn sie nicht mit der Realität im Einklang sind. Vielleicht ist das ja der eigentliche Grund für den Siegeszug der materialistisch-nihilistischen Weltinterpretation: Den Glauben haben zwar viele schon überwunden, aber noch nichts neues, besseres an seiner Stelle. So gesehen ist Materialismus Resignation vor dem Schritt in unbekannte Welten. Unvoreingenommen betrachtet hat der Materialismus nämlich überhaupt keine Belege für seine Berechtigung zur Erklärung der Welt. Auch der Materialismus muss überwunden werden. Auch der beruht nämlich nur auf einem (recht primitiven) Glauben, dass nämlich nur das existent ist, was messbar ist. Einen Beweis dafür gibt es nicht (siehe Wahrheit und Glaube). Wenn man dagegen die Phänomene unvoreingenommen betrachtet, findet man viele Anzeichen dafür, dass es außerhalb der materiellen Welt noch etwas anderes gibt. Auch dazu habe ich hier schon viele Beispiele angeführt. Rationalität und Spiritualität widersprechen sich nicht. Sie haben letztendlich den gleichen Anfang und das gleiche Ziel, auch wenn sie zwischenzeitlich getrennte Wege gegangen sind.

Dabei sind die Begriffe Religion, Spiritualität, aber auch Esotherik und alles, was damit zusammenhängt, nur verschiedene Ausdrücke für das gleiche Streben: das Streben nach Erkenntnis dessen, was über die materielle Welt hinausgeht, oder wie Goethe das formuliert hat: ‚was die Welt im Innersten zusammenhält.‘ Es ist ein großer Unterschied und hat zudem enorme Auswirkungen auf die allgemeine Denkrichtung, ob man annimmt, dass Geist eine Ausdünstung der Materie ist, oder ob man auch die Möglichkeit zulässt, dass Materie eine verdichtete Form und nur ein kleiner Teil des allumfassenden Geistes ist. Dann aber steht die Religion nicht mehr im Widerspruch zum aufgeklärten Menschen. Dann zielen Religion und Wissen(schaft) in die gleiche Richtung.

Freiheit und Wahrheit

Dann geht es nur noch um Wahrheit, und zwar eine allgemeinverbindliche, nicht individuelle und interpretationsoffene Meinung. Es ist die freie Erkenntnis der Wahrheit, die Religion und Wissenschaft miteinander versöhnt und den Menschen aus der Spaltung seiner Persönlichkeit wieder herausführt.

In Anbetracht der geschichtlichen Entwicklung kann man mit einigem Recht behaupten, dass christliche Tradition einen wesentlichen Anteil an der Freiheit des Einzelnen hat, auch wenn gerade die (katholische) Kirche alles getan hat, um das zu verhindern. Die Freiheit hat den Menschen zunächst allerdings in die Isolation getrieben, was seinen Egoismus gefördert hat und die christlichen Werte in Vergessenheit geraten ließ. Der Einzelne hat keinen Grund mehr, das Gemeinwohl über sein eigenes zu stellen. Es hängt lediglich von seiner individuellen Veranlagung ab, wo er die Grenze zieht zwischen dem, was ihm nützt, und dem, was den anderen schadet (siehe Entwickelung).

Wenn wir Klarheit über unsere Identität gewinnen wollen, dann dürfen wir das nicht mit unserem aktuellen Bewusstsein versuchen, das uns in der Gegenwart immer noch den Blick vernebelt. Das geht nur, wenn wir uns eingestehen, dass eine befriedigende Antwort erst in der Zukunft gegeben werden kann, und zwar nur dann, wenn die Entwicklung nicht in einer Sackgasse endet. Nicht das, was wir sind, kann uns Auskunft über unser Wesen geben, sondern nur der klare Blick auf das Potenzial, das wir zur Entfaltung bringen können, wenn wir den eingeschlagenen Weg konsequent weitergehen.

Je freier der Mensch wird, desto freier wird auch die Entscheidungsfindung werden. Ideologien oder Parteiprogramme müssen der Vergangenheit angehören. Entscheidungen, die unsere Gesellschaft oder Teile davon betreffen, dürfen nur zum Wohl der Gesellschaft als Ganzes gefällt werden und nicht aus eigennützigen Interessen. Dazu muss der Einzelne wissen, wie er als Individuum mit der Gemeinschaft in Verbindung steht, wie seine Entscheidungen auf ihn zurückwirken, und zwar über sein diesseitiges Leben hinaus. Das aber geht nur über den Weg der Erkenntnis. (siehe auch 'Wie ich die Welt sehe')

Wenn die Welt eine bessere werden soll, muss sich jeder einzelne ändern. Die entscheidende Frage kann nicht lauten: 'Wie kann ich die Welt zum besseren ändern?' Sie muss vielmehr lauten: 'Wie muss ich mich ändern, damit sich die Welt zum besseren verändert?' Das ist die einzig logische Konsequenz der Freiheit, wenn sie einen entwicklungsgeschichtlichen Sinn haben sollte.

In diesem Sinne lautet mein diesjähriger Wahlspruch, ein Zitat von Albert Schweitzer: 'Als unverlierbaren Kinderglauben habe ich mir den an die Wahrheit bewahrt. Ich bin der Zuversicht, dass der aus der Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse.'

Januar 2019

 

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