Freiheit und Entwicklung
Meine erste Begegnung mit dynamischer Entwicklung hatte ich bei den Recherchen zu meiner Abschlussarbeit über die heimischen Orchideen an der FH Weihenstephan. Wir waren damals der Meinung, Orchideen seien ein Beweis für die Natürlichkeit eines Standortes, also salopp ausgedrückt: wo Orchideen vorkommen, ist die Natur noch in Ordnung. Da die Orchideen so ziemlich als erste verschwinden, wenn eine Wiese gedüngt wird, sagte einem der gesunde Menschenverstand, dass umgekeht das Vorkommen von Orchideen ein Beweis für die Natürlichkeit sein muss. Wie mir im Laufe meiner Untersuchungen klar wurde, entsprach diese Denkweise nicht den Tatsachen, und auch nicht der wissenschaftlichen, bzw. rationalen Vorgehensweise. Im Gegenteil: die Vermischung von Schönheit und Seltenheit trübte den Blick auf die wirklichen Verhältnisse.
Was bei dieser Betrachtungsweise komplett unter den Tisch fiel, war die Dynamik. Alles was lebt, verändert sich. Leben bedeutet Werden und Vergehen, Geburt, Wachstum, Reife, Alter, Tod. Das gilt nicht nur für das Individuum, sondern für alle Lebensgemeinschaften. (Im Grunde gilt das auch für unbelebte Objekte – der Zahn der Zeit nagt eben an allem.)
Natürlich fiel im Studium immer wieder mal der Begriff Sukzession, was die natürliche Abfolge der Entwicklung von Pflanzengesellschaften bezeichnet. Wir verstanden das aber als eine Entwicklung auf ein Ziel hin, also hin zu einem Endzustand, der je nach Boden und Klima sehr unterschiedlich ist. In Mitteleuropa ist das fast überall Wald. Man hatte sich das so vorzustellen, dass zwar immer einzelne Bäume absterben und neue nachwachsen, der Wald insgesamt mit seiner standortbezogenen Artenzusammensetzung, also bei uns vorwiegend Buchen-Tannen-Mischwald, würde sich nicht mehr verändern, sofern der Mensch nicht eingreift.
Entwicklung, so wurde das verstanden, ist ein vorübergehender Prozess, der irgendwann zum Erliegen kommt, wenn ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. Dieser Gleichgewichtszustand ist gewissermaßen als Idealzustand zu verstehen. Als ob die Natur ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, das sie mit der Sukzession anstrebt. Nebenbei bemerkt ist alles, was wir in der Landschaft als Dauergesellschaften sehen, menschengemacht. V.a. die Blumenwiesen, die für viele der Inbegriff von Natürlichkeit sind, sind nur stabil, weil regelmäßig gemäht oder beweidet wird. Hier hält der Mensch die Entwicklung durch regelmäßige Eingriffe auf, so dass ein quasi-stabiler Zustand entsteht.
In Wirklichkeit gibt es in der Natur keinen Zustand, sondern nur Entwicklung. Die verläuft manchmal sehr langsam, so dass wir mit unserem menschlichen Zeitempfinden – oder krasser ausgedrückt: mit unserer menschlichen Arroganz – leicht zu dem Trugschluss verführt werden, irgendein Zeitpunkt sei der Höhepunkt der Entwicklung und damit der Punkt, an dem sich nichts mehr verändert.
Entwicklung bedeutet: es entsteht immer wieder Neues. Das Neue kommt, das Alte vergeht. Klingt alles ganz logisch; kein Grund, lange darüber nachzudenken. Trotzdem lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Was ist eigentlich die Ursache für Veränderung? Kommt einfach irgendetwas neues, das das alte verdrängt, oder wird erst das alte schwach, so dass neues sich ausbreiten kann?
Schauen wir uns die Sukzession im Pflanzenreich an: bestes Beispiel ist die Entwicklung der Vegetation auf einem freien Standort. Also vielleicht eine stillgelegte Kiesgrube: Der Boden ist erst einmal steril. Nach einem Regenguß versickert das Wasser schnell. Die Sonne tut das Ihre dazu und trocknet den Boden schnell wieder aus. Keine guten Verhältnisse für eine schnelle Besiedlung durch Pflanzen. Die meisten Samen, die mit dem Wind angeweht werden, haben wenig Chancen auf Keimung und gutes Gedeihen. Manche schaffen es trotzdem. Der Botaniker spricht von Pionierpflanzen, also solche, die als erste einen Standort besiedeln. Doch es sind nicht nur die physikalischen Verhältnisse, die die weitere Entwicklung beeinflussen. Auch die Pflanzen selbst machen sich gegenseitig das Leben schwer. Sie konkurrieren um das begrenzte Wasser, und wenn sie etwas größer sind auch um Licht. Die Natur ist gnadenlos: Nur der stärkste kann überleben.
Im Laufe der Zeit haben es so viele Pflanzen geschafft, dass es eng wird. Die Vegetation wächst in die Höhe – nach Jahrzehnten ist sie, zumindest in unserem gemäßigten Klima, zum Wald herangewachsen.
Die meisten Pflanzen, die zu den Erstbesiedlern gehört haben, sind dann längst verschwunden. Sie brauchen die Sonne, die jetzt kaum noch den Boden erreicht. Dafür sind andere eingewandert, die mit weniger Licht zurechtkommen, dafür aber die extremen Licht- und Hitzesituationen überhaupt nicht vertragen. Der Wald sorgt für ein ausgeglicheneres Kleinklima. Durch Beschattung und Verdunstung werden die Extreme abgemildert.
Schon dieser kurze Exkurs ins Pflanzenreich zeigt bereits, worauf es mir ankommt: Entwicklung führt nicht zu einem Endzustand, bei dem die Dynamik zum Erliegen kommt, bzw. sich höchstens noch darauf beschränkt, ein dynamisches Gleichgewicht zu erhalten. Jedes Entwicklungsstadium bereitet sich selbst die Bedingungen, die letztendlich zu seinem Tod führen. Man kann das begrüßen oder darüber enttäuscht sein, je nachdem auf welche Weise es einen selbst betrifft. Tatsache ist: Das Leben führt zum Tod.
Es war gar nicht so einfach, das zu durchschauen. Das Offensichtliche ist nicht immer leicht zu verstehen. Und es hat fast ein ganzes Leben gedauert, um zu begreifen, dass hier ein allgemeines Prinzip zum Vorschein kommt. Was man an der Vegetation beobachtet, kann man überall sehen, im Großen wie im Kleinen. Sei es die Entwicklung der Welt vom Urknall bis heute oder das Leben eines Organismus von der Geburt bis zum Tod. Nirgendwo steht die Zeit still, alles ist fortwährend im Wandel. Wobei Wandel nicht einfach Veränderung heißt, sondern Entwicklung: Werden und Vergehen – Geburt, Wachstum, Reife und Tod, wobei der Tod des einen die Chance für die Geburt des anderen ist. Entwicklung ist etwas anderes als das, was man gemeinhin als Kreislauf des Lebens bezeichnet. Es ist eben nicht die Wiederkehr des immer gleichen, sondern die Geburt von etwas neuem auf einer höheren Ebene. Auf der Seite Naturerkenntnis-Selbsterkenntnis habe ich das etwas ausführlicher beschrieben.
Wobei wir bei meinem eigentlichen Thema wären. Es geht, eigentlich wie immer, um unsere Lebenseinstellung. Weil ich finde, dass die Art, wie man zur Welt steht, unsere Handlungsimpulse beeinflusst, wenn nicht sogar prägt. Früher war es in vieler Hinsicht der Glaube, also der religiöse Glaube, der in weiten Teilen das Leben bestimmt hat. Heute ist es der Nicht-Glaube, der bestimmend ist. Und das ist problematisch. Das Zeitalter der Vernunft hat die alten Werte aufgelöst.
Aber der Reihe nach. Um die Entwicklung zu verstehen, müssen wir ein paar Jahrhunderte zurückgehen. Es begann damit, dass man sich auf die Vernunft besann. Während man früher die Offenbarungen, also v.a. die Bibel, als Grundlage für alle Erkenntnis betrachtete, begann man irgendwann, die Beobachtung, d.h. die eigene Erfahrung, höher zu bewerten als den Glauben. Der Beginn der Neuzeit wird allgemein mit Namen wie Kopernikus, Galileo Galilei, Kepler und viele andere in Verbindung gebracht, doch es gibt Vorläufer in den Mystikern wie Meister Eckehart, Johannes Tauler und andere. Sie alle legten großen Wert auf die individuelle Gotteserfahrung, die allerdings noch eng an den Glauben gekoppelt war. Es ist wie bei einer Pflanze, die zum Ende ihres Lebens ihr Wesen in ein Samenkorn legt, aus dem nach einer gewissen Ruhezeit neues Leben sprießt, hier also in der Naturwissenschaft, die in den nächsten Jahrhunderten aufkeimte. Dass der Kirche diese Art der Selbsterfahrung nicht geheuer war, macht die Anklage Meister Eckeharts wegen Ketzerei überaus deutlich. Es läßt sich nur vermuten, wie das Urteil in dieser Causa ausgegangen wäre, da Meister Eckehart vor dem kirchlichen Gerichtsverfahren verstarb.
Von
einem späteren Mystiker, Angelus Silesius. der gewissermaßen
als Nachzüglier im 17. Jahrhundert lebte, stammt der
bezeichnende Satz, der gut den Kern der Mystik trifft:
Die deutsche Mystik war in gewisser Weise ein Höhepunkt in der Gotteserfahrung. Ich habe es lange Zeit bedauert, dass diese doch relativ kurze Episode in der Geschichte einfach aufgehört hat und durch den profanen Verstand ersetzt wurde. Heute ist mir klar, dass die Mystik nicht einfach aufgehört hat. Im Gegenteil: der Impuls, der in der Mystik als die individuelle Erfahrung zum Vorschein kam, hat sich in die folgende Entwicklung eingelebt und ist von Jahrhundert zu Jahrhundert immer stärker geworden.
Mit der Neuzeit begann ein Umbruch in allen Lebensbereichen. Der Mensch fing an, sich aus dem Korsett der alten Ordnung zu befreien. Das war nicht einfach und ging nicht von heute auf morgen. In gesellschaftlicher Hinsicht war es v.a. die feudale Ordnung, die die Entwicklung behinderte: Der Mensch in Mitteleuropa war eingebunden in ein enges Geflecht aus familiären und standesbezogenen Beziehungen, die ihm seinen Lebensweg vorschrieben. Es war undenkbar, dass sich ein junger Mann (von Frauen gar nicht zu reden) einen Beruf nach seinen eigenen Neigungen und Fähigkeiten aussuchte. Ganz abgesehen davon, dass sein Stand darüber entschied, ob er überhaupt eine Schule besuchen durfte. Und auch abgesehen davon, dass die wenigsten sich wohl dessen bewusst waren, dass sie eigene Neigungen haben, die es wert sind, beachtet zu werden.
Es gab sicher nicht einen einzelnen, der durch seinen Einfluss den Umbruch verursachte. Im Nachhinein kann man aber sagen, dass Adam Smith gerne als Kronzeuge für den weiteren Verlauf der Geschichte angeführt wird. Man könnte ihn als das schottische Pendant zur französischen Revolution von 1789 bezeichnen – er starb 1790. Während von der französischen Revolution die drei Grundprinzipien – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – als Quintessenz erhalten geblieben sind, wird mit Adam Smith nur noch der Egoismus in Verbindung gebracht.
Adam Smith ging über die Tendenz zur Individualisierung hinaus, indem er in den egoistischen Handlungsimpulsen des Einzelnen die Ursache für gesellschaftliches Wohlbefinden postulierte. Es sei die berühmte unsichtbare Hand des Marktes, die die egoistischen Impulse in ein Ergebnis zum Wohle aller umwandelt. Auch wenn er selbst das keineswegs als Hauptkriterium seiner Lehre betrachtete, wird er gerne auf diesen einen Satz reduziert. Und nicht nur das: die Jahrhunderte haben seine Lehre soweit verdreht, dass der Egoismus heute sogar als Voraussetzung für eine funktionierende, für alle Mitglieder förderliche Gesellschaftsordnung gilt.
Man spricht allerdings heute nicht so gerne von Egoismus – dieses Wort hat immer noch einen negativen Beiklang. Der gängige Begriff lautet heute: Freiheit. Freiheit klingt einfach positiv. Wer würde sich nichts auf unsere hart erkämpfte Freiheit einbilden, um die uns viele beneiden. Umso mehr, als überall auf der Welt die Machthaber die Freiheit einschränken wollen. Wie es scheint, ist Freiheit doch kein allgemein anerkanntes Gut, das über jeden Zweifel erhaben ist. Wir halten uns zugute, dass jeder sich im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung frei entfalten darf. Im Gegensatz z.B. zum Iran, wo gerade die Vorkämpfer der Freiheit verhaftet und wegen Aufruhr zum Tode verurteilt werden. Oder von Afganistan, wo die Taliban Mädchen von der Sekundarschule und Frauen von den Universitäten ausschließen.
Uns verkauft man schon in der Grundschule die Demokratie als sichtbares Zeichen und als Garant für die Freiheit. Als ob Demokratie ein Wert an sich wäre, der über jeden Zweifel erhaben ist. Zugegeben: eine Demokratie mit freien Wahlen, in der jeder wählen darf und auch jeder gewählt werden darf, ist vom Prinzip her besser als eine Wahl, bei der die Machthaber selber entscheiden, ob sie mit 70 oder mit 80 % der Wählerstimmen gewählt werden, bzw. als eine Autokratie oder sonstige Spielart der Diktatur. Und dennoch: die Demokratie, wie wir sie kennen, ist nicht das gute Ende einer Entwicklung, auf dem wir uns ausruhen dürfen. In diesem Zusammenhang habe ich, wie ich glaube, bereits einmal Ortega y Gasset bemüht, der der Überzeugung war: 'Kultur ist keine Herberge, sondern ein Weg'.
Auch die Demokratie kann sich abnutzen. Je subtiler die Politik die Erkenntnisse der Marketingexperten in die Meinungsbildung einbindet, desto unfreier wird das System. Das perfide daran ist, dass der Durchschnittsbürger gar nicht merkt, wie weit die Manipulation bereits die freie Meinunsbildung verdrängt hat. Ein eindrucksvolles Beispiel war die Manipulation der Präsidentschaftswahlen in Amerkika von 2016, die von Rußland über Facebook beeinflusst wurden. Dabei wurden 50 Millionen Nutzerprofile ausgewertet, um den politischen Standort der Nutzer herauszufinden. Bei den unentschlossenen wurde daraufhin gezielt Werbung geschaltet, die die Meinung von Donald Trump in ein besonders positives Licht rückte. Bei Wahlen, wo sich ein Patt zwischen den Kontrahenten abzeichnet, kann dieses Vorgehen die Wahl entscheiden.
Doch zurück zu Adam Smith. Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man ihn nur für die Legitimation des Egoismus verantwortlich machen. Genau genommen hat er eine neue Weltanschauung geschaffen: Den Liberalismus. Was als freie Entfaltung der Persönlichkeit eigentlich eine begrüßenswerte Erscheinung ist, verkommt zu einem Zerrbild, wenn die Persönlichkeit keine Grenzen mehr kennt oder akzeptiert. Wenn nur noch der eigene Nutzen Entscheidungen legitimiert, egal welche Auswirkungen diese Entscheidungen auf andere Menschen, auf die Umwelt oder auf andere Staaten haben.
Leider ist es nicht immer so offensichtlich, wie beim Überfall von Rußland auf die Ukraine Anfang dieses Jahres. Auch der ach so liberale Westen ist kein Stück besser. Nur ist es hier nicht so offensichtlich. Die Strippen werden im Hintergrund gezogen, der Normalbürger bekommt nur die aufgehübschte Oberfläche zu sehen. Neben vielen anderen, die sich mit diesem Thema befasst haben, und auf die ich hier nicht nur einmal hingewiesen habe, hat mich das Buch von Naomi Klein: 'Die Schockstrategie – der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus' in meiner Auffassung bestätigt. Sie beschreibt auf 650 Seiten die zerstörende Macht der neoliberalistischen Schule, angefangen bei Experimente an psychisch kranken Personen, wo durch eine Schocktherapie – Folter, Medikamente u.a. traumatische Einflüsse – versucht wurde, die Persönlichkeit auszulöschen, um sie danach wieder neu aufzubauen. Wobei dieser Neuaufbau im Sinne des 'Therapeuten' einen besseren Menschen erzeugen sollte. Auf eine solche Idee kann natürlich nur ein Atheist kommen, der die Seele des Menschen nur als Produkt äußerer Einflüsse ansieht. Aber das nur am Rande. Abgesehen davon, dass die Schockstrategie nur noch krankere Persönlichkeiten produziert hat, passte sie gut in das Weltbild der Chicagoer Schule von Milton Friedman. Der Neoliberalismus, der den freien Markt als Lösung aller Probleme propagiert, bekam einen quasi wissenschaftlichen Lösungsansatz, um nach einer radikalen Zerstörung aller gewachsenen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen den 'heiligen' freien Markt aufzubauen. So geschehen in Mittel- und Südamerika, in Südostasien, Südafrika, Rußland, und ganz besonders brutal im Irak, wo man durch einen Krieg erst mal die alte Ordnung komplett beseitigt hat und danach unter dem Vorwand, ein Volk mit der Demokratie zu beglücken, die Wirtschaft und damit das Kapital des Landes übernommen hat. Das Vorgehen der neoliberalistischen Schule ist immer das gleiche: Privatisierung, Deregulierung und Einschnitte bei den Sozialausgaben – die Dreifaltigkeit des freien Marktes. Die Privatisierung öffnet den Markt für kapitalstarke, multinationale Unternehmen, um mit minimalem Aufwand maximale Profite einfahren zu können. Die Deregulierung zerstört die heimische Wirtschaft, weil sie plötzlich einer übermächtigen Konkurrenz ausgesetzt wird. Und die Einschnitte bei den Sozialausgaben bricht den Widerstand der Bevölkerung, denn wer um seine Existenz kämpfen muss, hat keine Zeit, sich um gesellschaftlich relevante Themen zu kümmern. Am Anfang aller dieser Gewaltorgien steht natürlich immer ein meist selbstverschuldetes Problem, das die jeweilige Regierung nicht aus eigener Kraft lösen kann, weshalb sie nach Hilfe sucht. Mit dem Hinweis auf den freien Markt, der alle Probleme quasi von selbst löst, wenn nur der Eigennutz radikal entfesselt wird, wird denen geholfen, die selbst keine schnelle Lösung kennen. Der Glaube an die Übermacht des freien Marktes lässt alle Zweifel verstummen.
Auch wenn offensichtlich war, dass George W. Bush die ganze Welt belogen hat, was den Grund für den Einmarsch im Irak anging, war vom Westen höchstens verhaltene Kritik zu hören. Unser damaliger Bundeskanzler, Gerhard Schröder, hat sich zwar geweigert, aktiv mitzumischen. Als die US-Regierung nach dem Krieg die Rechnung präsentiert hat, hat Deutschland aber brav gezahlt, soweit ich mich erinnern kann. Ich würde behaupten, dass Putins Einmarsch in die Ukraine in der Sache kein großer Unterschied war. Der einzige Unterschied zwischen Putin und Bush ist, dass Putin zu offensichtlich gehandelt hat. Anders gesagt: Putin ist einfach zu dumm, die öffentliche Darstellung seiner Handlungen positiv zu vermarkten.
Die beiden Systeme, das russische auf der einen Seite, und das amerikanisch-westliche auf der anderen Seite, unterscheiden sich allerdings historisch beträchtlich voneinander. In Rußland folgte auf das absolutistische Zarentum die absolutistische Diktatur des Proletariats. In Amerika dagegen folgte auf die Demokratie die verschleierte Diktatur des Neoliberalismus, der immer noch unter der Überschrift der Demokratie schalten und walten darf. Das ganze ist nicht einfach zu durchschauen. Ich muss zugeben, dass ich auch nicht zu 100 % sicher sein kann, dass meine Darstellung richtig ist. Schließlich ist gerade Deutschland ein leuchtendes Beispiel für die Segnungen der freien Marktwirtschaft. Die – selbstverschuldete – radikale Zerstörung im Verlauf des zweiten Weltkrieges wurde durch die freie, aber auch soziale Marktwirtschaft relativ schnell überwunden. Im Gegensatzt zu allen anderen Nationen, die Naomi Klein in ihrem Buch aufführt. Dort schafft die 'Hilfe' der Chicagoer Schule auf Dauer eine Unterschicht von 25 bis 60 %. Wohlgemerkt: diese Menschen waren vorher nicht reich, aber sie hatten zu leben. Nach der Hilfe hatten sie nichts mehr.
Ich will den Anhängern der freien Marktwirtschaft zugute halten, dass sie selbst an das glauben, was sie predigen. Schließlich ist die Effizienz in anderen Fällen unumstritten. Dennoch: es ist wie im zwischenmenschlichen Bereich, wo Hilfe so oder so geleistet werden kann. Wenn mein Nachbar in eine Notlage gerät, dann kann ich ihm, wenn es mir besser geht, unter die Arme greifen, damit er sich selbst aus der Notlage befreien kann. Es spricht dabei nichts dagegen, wenn ich mit ihm gemeinsam untersuche, wie er in diese Notlage gekommen ist. Es spricht auch nichts dagegen, dass ich meine Hilfe an die Bedingung knüpfe, dass er die gleichen Fehler, die zu der Notlage geführt haben, nicht wiederholen darf. Ich könnte aber auch unter dem Deckmantel der Hilfsbereitschaft seine Notlage ausnutzen, um billig an seinen Besitz zu gelangen. Das eine ist menschlich, das andere wirtschaftlich effektiv. Aber nur weil etwas wirtschaftlich effektiv ist, muss es nicht automatisch an erster Stelle von mehreren Alternativen stehen. Die wirtschaftliche Priorität ist nicht in Stein gemeißelt.
Ein weiteres, gerade aktuelles Beispiel ist die Kapitalisierung unseres Gesundheitssystems. Jahrelang ging es nur um Kostenreduzierung, was jetzt zur Verknappung von so banalen, aber wirksamen Medikamenten wie Hustensaft geführt hat, die in diesem Winter gerade bei Kindern dringend gebraucht werden. Auf der anderen Seite kaufen finanzstarke Unternehmen spezialisierte Arztpraxen auf, weil man mit teuren, aber wenig wirksamen Behandlungen und Operationen Renditen von über 10 % erwirtschaften kann.
Was wie ein Widerspruch aussieht, also die menschliche und die wirtschaftliche Effektivität, wird verständlich, wenn man es als Entwicklungsprozess betrachtet. Wie bei der Sukzession im Pflanzenreich, wo jedes Entwicklungsstadium den Standort so verändert, dass es sich selbst die Lebensgrundlagen entzieht, so ist es bei jeder Art von Entwicklung: Eine an sich gute neue Eigenschaft verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn sie sich nicht weiter entwickelt. Freiheit verkommt zum Egoismus, wenn sie stehen bleibt und sich nicht weiterentwickeln will. Man kann das auch schön bei Wolfgang Kubicki nachlesen. Er betrachtet das Thema Freiheit rein schematisch, etwa nach dem Motto: Freiheit ist gut, alles andere ist schlecht. Kein Gedanke über Wirkungen und Nebenwirkungen. Eigentlich eine ziemlich armselige Argumentation. Neben vorwiegend liberalistischem Geschwätz ist er aber in der Tat ehrlich, wenn er sagt: 'Freiheit ist egoistisch'.
Das muss aber nicht so bleiben. Wir Menschen haben es, seit wir in die Freiheit entlassen wurden, selbst in der Hand, was wir daraus machen. Gerade das ist ja das Kennzeichen von Freiheit. Wenn wir den Weg des Egoismus weiter gehen, werden wir die Welt zugrunde richten. Wenn wir dagegen, und zwar jeder einzelne, die Freiheit mit Selbstverantwortung verbinden, können wir vertrauensvoll in die Zukunft schauen. Es darf nicht darum gehen, die Freiheit zu verteufeln, wie es die Fundamentalisten jeder Couleur gerne machen. Wir können stolz auf die Freiheit sein und auf die Errungenschaften, die mit ihr in Zusammenhang stehen. Wir müssen uns aber auch im Klaren darüber sein, dass sie kein Wert an sich ist, der einmal erlangt wird und dann immer erhalten bleibt. Wer das denkt, ist schon auf Abwegen. Es gibt, auch in Bezug auf die Freiheit, kein gut oder schlecht, sondern nur aufsteigende oder absteigende Entwicklung. Was in einem Jahrhundert gut ist, weil verkrustete, die Selbstentfaltung behindernde Strukturen vernichtet werden, kann schon im nächsten Jahrhundert, wenn der Kampf zum Selbstzweck wird, absolut schlecht sein. Wir müssen immer die Richtung im Auge behalten, in die die Entwicklung verläuft. Das bedeutet nicht zwingend, dass wir ein konkretes Ziel vor Augen haben müssen. Aber wenn wir merken, dass der Weg, auf dem wir gehen, eher wieder nach unten führt, wird es Zeit, die Richtung zu ändern. In unserer Zeit bedeutet das: mehr Selbstverantwortung für das, was wir tun, mehr Hilfsbereitschaft, mehr Menschlichkeit.
(Um nicht mißverstanden zu werden: es bedeutet nicht Selbstaufgabe, Selbstaufopferung oder Selbstabwertung. Doch das ist wieder ein anderes Thema.)
Dezember 2022